Du musst nicht immer stark sein – auch wenn man dir das von klein auf beigebracht hat.
Als wir Kinder waren und gestürzt sind, hörten wir oft: „Ist doch nicht schlimm, hör auf zu weinen – das geht schon vorbei.“
Man hat uns beigebracht, stark zu sein. Wenn wir hinfallen. Wenn das Eis auf den Boden fällt. Wenn uns jemand Kaugummi ins Haar klebt.
Und wenn wir erwachsen werden, geht es genauso weiter.
Uns wird gesagt, wir sollen das Leben still ertragen, die Zähne zusammenbeißen, lächeln – selbst dann, wenn es in uns stürmt.
Wir sollen verzeihen, ohne viel Aufhebens. Weitermachen, ohne zu klagen.
Aber nein, meine Lieben. Wir brauchen etwas ganz anderes.
Wir dürfen weinen. Wir dürfen laut sein. Fluchen. Uns streiten. Unsere Wut und unsere Enttäuschung zeigen.
All den Ballast den wir in uns hineingeschluckt haben, dürfen wir rauslassen.
Wirf ihn in den Müll, klapp den Deckel zu – und mach Schluss damit. Für immer.
Der Mythos der starken Frau
Als wir klein waren, bekamen wir nicht nur von Medien bestimmte Bilder von Stärke vermittelt, sondern auch von den Frauen in unserem direkten Umfeld – unseren Müttern, Tanten, Großmüttern.Sie zeigten uns – oft unbewusst – ein Bild von Weiblichkeit, das kaum Rauum für Schwäche ließ. Selbst wenn sie traurig waren, sagten sie: „Mir geht’s gut.“ Sie jammerten nie. Sie schafften alles – still und ohne Klage.
Und auch die mediale Welt spielte ihren Teil: Die „Superwoman“, die alles unter Kontrolle hat. Die „Working Mom“, die nie erschöpft ist. Die „Boss Babe“, die immer stark, unabhängig und makellos erscheint.
Diese Bilder prägen unser Frauenbild bis heute – und flüstern uns ein, dass wir nur dann etwas wert sind, wenn wir alles meistern.
Ich erinnere mich noch gut an meine Schulzeit – an die Multiplikationstabelle, die in mir als Kind Frust und Wut auslöste Aber ich durfte das nicht zeigen. Stattdessen musste ich durchhalten, Zähne zusammenbeißen, lernen – ohne eine Träne zu vergießen. Weil meine Eltern sagten: „Andere Kinder können das doch auch – ohne zu jammern.
Diese Denkweise wirkt tief. Stärke wird gleichgesetzt mit Leistung, mit Disziplin. Schwäche dagegen – mit persönlichem Versagen. Gefühle wie Überforderung, Traurigkeit oder Wut haben in diesem Weltbild keinen Platz. Und so passen wir uns an. Werden leise.
Doch dieser Mythos fordert seinen Tribut. Wir wissen heute: Frauen leiden immer häufiger an Autoimmunerkrankungen – nicht selten, weil sie ihre Frustration, Trauer und Enttäuschung jahrelang unterdrücken. Sie funktioniereen, lächeln, machen weiter obwohl es in ihnen längst brodelt.
Was nicht gefühlt werden darf, wird verschlossen. Und was verschlossen bleibt, sucht sich irgendwann seiinen eigenen Weg – über den Körper.
Emotionale Ehrlichkeit als Stärke
Uns wurde beigebracht, Emotionen zu kontrollieren, nicht zu zeigen. Doch echte Stärke liegt nicht im Verbergen, sondern im Zulassen.
So sehr wir auch versuchen, unsere Gefühle zu verstecken – sie finden immer einen Weg nach außen. Kein Mensch kann dauerhaft Glück vorspielen. Vielleicht für ein paar Minuten. Aber unsere wahre Gefühlslage zeigt sich im Ton unserer Stimme, in der Körpersprache, im Blick.
Wir glauben, andere täuschen zu können – doch Menschen spüren die Energie, die wir ausstrahlen. Sie fühlen, ob unsere Worte echt sind. Emotionale Ehrlichkeit bedeutet, sich selbst treu zu bleiben – und das ist eine Form von Stärke, die leise, aber kraftvoll ist.
Verletzlichkeit als mutiger Akt
Stellt euch nur vor, wie frei ein Mensch ist, der seine Gefühle nicht verstecken muss. Der nicht taktieren oder seine innere Welt maskieren muss. Das ist wahre Stärke. Verletzlichkeit bedeutet nicht, schwach zu sein – sie ist ein Kompass. Sie zeigt uns, wer uns wirklich gut ttut und wer nicht. Wenn uns jemand
verletzt sendet unser Inneres ein klares Signal: „Hier stimmt etwas nicht.“Und genau durch diesen Schmerz setzen wir Grenzen. Wir erkennen, wem wir uns öffnen können und wem nicht.
Die Forscherin Brené Brown nennt Verletzlichkeit „den Geburtsort von Mut, Zugehörigkeit und Kreativität“. Es ist ein mutiger Akt, sich in Momenten der Unsicherheit zu zeigen.
Wenn wir uns trauen, ehrlich zu sagen: „Ich habe Angst“, „Ich fühle mich klein“ oder „Ich schäme mich gerade“, dann schaffen wir die tiefsten menschlichen Verbindungen.
Ob in Gesprächen mit Freundinnen, in der Partnerschaft, in der Mutterrolle oder im beruflichen Kontext ist die Verletzlichkeit der Moment, in dem Masken fallen und echte Nahe entsteht.
Es braucht Mut nicht perfekt zu sein. Aber genau dort beginnt unser wahrhaftiges Leben.
Die Folgen des ständigen Durchhaltens
Ich erlebe immer wieder Momente, in denen ich innerlich feststecke – besonders dann, wenn ich frei habe oder im Urlaub bin. Nutze ich die Zeit zum Arbeiten, plagt mich das schlechte Gewissen, weil ich mir keine Erholung gönne. Gönne ich mir hingegen eine Pause, habe ich das Gefühl, wertvolle Zeit zu verschwenden.
Egal, wie ich mich entscheide – am Ende bleibt ein leiser Vorwurf an mich selbst: Ich hätte es anders machen sollen.
Dieses ständige Gefühl, „richtig funktionieren“ zu müssen, zehrt aus. Viele Frauen kennen das: Der Druck, allen Erwartungen gerecht zu werden, lässt wenig Raum für echte Bedürfnisse. Der sogenannte Mental Load – das unsichtbare, ständige Mitdenken und Kümmern – ist eine enorme Belastung.
Wir lernen, zu funktionieren, aber nicht zu fühlen. Wir folgen Pflichten, aber verlieren dabei uns selbst. Der Preis ist hoch: Burnout, Perfektionismus, das nagende Gefühl, nie genug zu sein.
Am Ende bleiben Frustration, Müdigkeit und eine tiefe Sehnsucht nach einem Leben, das nicht nur „läuft“, sondern sich auch nach uns selbst anfühlt.
Strategien für mehr Selbstmitgefühl
Uns wurde beigebracht, dass Selbstfürsorge schnell als Egoismus gilt.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Nur wenn wir ehrlich unser Unzufriedensein ausdrücken, entwickeln wir ein gesundes Selbstbild und bauen echte Selbstliebe auf. Und nur wer sich selbst liebt, kann auch andere wirklich lieben.
Diese vier Strategien helfen dir, sanfter mit dir selbst zu sein – besonders in Momenten, in denen du glaubst, stark sein zu müssen.
1. Grenzen setzen lernen
Wenn du spürst, dass dich etwas körperlich, emotional oder finanziell gefährden könnte, ist es Zeit, „Nein“ zu sagen. Nein ist kein Angriff, sondern ein Schutzraum. Du musst nicht immer stark sein, um akzeptiert zu werden – deine Grenze ist deine Selbstachtung.
2. Sich selbst erlauben, Hilfe zu holen
Kein Mensch übersteht körperliche Krankheiten ohne ärztliche Hilfe – warum sollten wir emotionale Schmerzen alleine tragen? Sprich mit einer Freundin, Partner oder einer Fachperson. Hilfe annehmen bedeutet nicht, dass du schwach bist.
3. Achtsamkeit und Journaling
Journaling ist wie ein ruhiger Dialog mit dir selbst auf Papier. Du lernst, deine inneren Zustände zu erkennen, zu reflektieren und anzunehmen. Diese Form der Selbstbegegnung stärkt dein Inneres – besonders in Zeiten, in denen du das Gefühl hast, immer stark sein zu müssen.
4. Rituale für emotionale Entlastung
Jede von uns hat eigene kleine Dinge und Rituale, die das Nervensystem beruhigen. Ich zum Beispiel habe viele Zimmerpflanzen. Die Pflege dieser Pflanzen beruhigt mich, gibt meinem Alltag eine gewisse Struktur und lässt mich mich der Natur näher fühlen – auch wenn ich in der Stadt lebe.
Wenn ich also nicht in die Natur gehen kann, hole ich mir die Natur einfach nach Hause.
Schlussgedanken
Am Ende bleibt eine einfache, aber tiefgreifende Wahrheit: Du musst nicht immer stark sein.
Ein Leben lang wurde uns beigebracht, still zu sein, durchzuhalten, Erwartungen zu erfüllen und nicht zur Last zu fallen. Doch
je mehr wir versuchen, stark zu wirken, desto weiter entfernen wir uns oft von unserem wahren Selbst.Wie oft haben wir etwas getan, nur weil es von uns erwartet wurde – und nicht, weil wir es wirklich wollten? Wie oft haben wir Müdigkeit, Trauer oder Wut unterdrückt, nur um „funktionierend“ zu bleiben? Und was bleibt, wenn wir uns selbst immer wieder übergehen?